Melodien aus unterschiedlichen Epochen fluten den backsteinernen Clara Keller, mal zwei, drei, vier oder sechsstimmig. Von Bach bis zeitgenössisch. Die insgesamt sieben Musiker sind immer wieder in Bewegung im Eröffnungskonzert des 5. Linos Festival für Kammermusik in Köln. Sätze aus Gabriel Faurés Klaviertrio und dessen zweiten Streichquartett, sowie die Uraufführung des Klaviertrios „Echo Chamber“ und „Unbenannt-2“ für Streichquartett der litauischen Komponistin Justina Repečkaitė sind Höhepunkte. (Von Sabine Weber)
(20. September 2024, Sancta Clara Keller, Köln) Das französische Quatuor Zaȉde, vier Streicherinnen, sind aus Paris angereiste Gäste. Wie auch Pianist Arash Rokni, der für den Linos-Piano-Trio-Pianisten Pratch Boondiskulchok übernimmt, der gerade Vater geworden ist und kürzer tritt. Begegnungen mit anderen Musikern sind dem Linos Piano Trio, 2007 in London gegründet, so wie so Programm. Und Klaviertrio- und Streichquartettsätze von Haydn, Fauré und Repečkaitė stehen sich im Eröffnungsprogramm gegenüber und werden durch stimmungsvolle Improvisationen ausgelöst, je nach dem, wer von den Musikern, die sich links vorn beim Klavier, rechts vorn oder hinter dem Publikum formieren, wo dann auch das gesamte Streichquartett sitzt. Die Pfeiler im Raum verlangen individuelle Lösungen. Da stehen denn vorne sitzende Hörer gern auf und drehen sich um, damit sie sehen können.
Versus steht über dem Abend: Gegensätze, die einander neu beleuchten
Und es gibt immer etwas zu sehen in diesem zwischen Antike und Biedermeier-Rittersaal changierenden Keller. Beim dreistimmigen Canon Perpetuus aus dem Musikalischen Opfer von Bach umkreisen die beiden Geigerinnen des Zaȉde den Cellisten Vladimir Waltham vom Linos, was bei dem sich unendlich fortspinnenden Canon inhaltlichen Bezug hat, sozusagen räumliche Übersetzung der Unendlichkeitsidee ist. Darauf folgen drei minimalistisch verspielte Stücke für Violine und Klavier von György Kurtág, die das genaue Gegenteil von „unendlich lang“ sind, nämlich „kurz“ auf Gesten und Kleinstmotive reduziertes, fast fragmentarisches Spiel. Versus steht über dem Abend. Es geht also um Gegensätze, die sich ergänzen oder neu beleuchten. Die Idee umschreibt Geiger Konrad Elias-Trostman bei seiner Begrüßung vorneweg, in einen fast bodenlangen Kaftan gekleidet: Interaktion, Dialog, Begegnung.
Dissonanzen werden zu Konsonanzen
Erstaunlich sind da Gemeinsamkeiten bezüglich der Melodiebildung zwischen beispielsweise den beiden Stücken von Jusina Repečkaitė und Fauré, die genau 100 Jahre auseinanderliegen. In diesem Jahr jährt sich Faurés Todestag zum 100. Mal. Die litauische Komponistin, übrigens anwesend, spielt in ihren Werken mit gedehnten Melodietonklängen. Der Bogen hält einen Ton, ein anderer Bogen dagegen. Und es hat den Eindruck, dass Dissonanzen zu Konsonanzen werden. In Übereinkunft von Violoncello und Klavier werden immer wieder neue Impulse gesetzt. Das ist klangsinnlich und steigert sich in höchste Höhen und schärft vor allem das Melodiehören.
Fauré schafft atemberaubende Modulationen
Auch bei Fauré überhaupt und im speziellen in seinem späten Klaviertrio Op. 120 und Streichquartett Op. 121 gibt es gedehnte Melodietonklänge. Weniger gezogen als in unendlicher Fortschreitung, die sich weigert, zu sich zurück zu kehren. Selbst wenn die solistische Cellomelodie am Anfang des ersten Triosatzes im Tumult-Tutti wiederkehrt, klingt sie anders. Wie beim gregorianischen Choral wird immer weiter mit neuen Intervallen und Floskeln erzählt. Jeweils vor den beiden Fauré-Sätzen intonierten die Musiker gregorianischen Melodien auf Vokale gesungen ohne Text, einen marianischen Hymnus und das Te Deum, was passt und Bezug hat. Bei Fauré bleibt jede Stimme wie in der frühen Vokalpolyphonie zudem immer eigenständig, wobei atemberaubende Modulationen passieren, sodass nur nach einem Takt die tonale Grundlage durch eine andere völlig ersetzt sein kann. Und alles bleibt im elegant ausbalancierten Gleichgewicht. Romantisch, aber ohne sentimentales Pathos. Beim Linos Piano Trio und beim Quatuor Zaȉde, das sich bei Haydns Quartett in C-dur op 20,2 noch ein bisschen mit dem Haydenschen Witz abmüht, der nun mal perfektes Agieren auf den Punkt verlangt, klingt Fauré traumhaft klangschön. Man hätte die beiden Werke so gern vollständig gehört. Immerhin zwei Sätze Fauré, denn wer gedenkt des Fauréschen Jubiläums im übernächsten Monat überhaupt?
Der anderthalb Stunden dauernde Klangspaziergang bleibt äußerst kurzweilig. Denn er führt wohl durchdacht an nur scheinbar Nichtpassendem vorbei, dass sich in der nächsten Musik immer erschließt. Die nie aufdringliche Raumchoreografie wird durch Dunkel und Lichtspots begleitet. Und natürlich: Johann Sebastian lieferte Alpha und Omega als Inbegriff melodischen Kontrapunkts. Eines der vier magischen Duette aus dem späten Tastenwerk Bachs gibt den Auftakt mit Violine und Violoncello. Die Musiker mischten sich im Verlauf des Abends immer wieder neu zusammen. Im auratisch sechsstimmigen Ricercar über das königliche Thema des Musikalischen Opfers vereinen sich im Finale alle Streicher des Abends. Ein außergewöhnlicher Abend, bei dem unvoreingenommen zugehört werden durfte und keine Programmhefttexte intellektuelle Auseinandersetzung abverlangten. Das ist mal gut so. Wirklich schade nur, dass nicht mehr junge Leute den Weg in dieses Konzert gefunden haben. Immerhin gab es im Vorfeld Familienkonzerte. Drei Tage dauert das Linos-Festival auch dieses Jahr!