(Titelbild: Xavier Sabata als Orlando. Foto: Matthias Jung) Zufall, dass die letzten Premieren am Theater Bonn und in Köln im Abstand von weniger als einer Woche zwei Händel-Opern gelten, die im selben Jahr entstanden sind und auf Ludovico Ariosts über 100 Jahre alten Epos „Orlando furioso“ basieren? Kommt die Hauptfigur in der „Alcina“ gar nicht vor, so steht sie in „Orlando“ im Mittelpunkt. (Von Sabine Weber)
(20. November 2024, Oper Köln im Staatenhaus) Diese Rolle hat Georg Friedrich Händel, oder Handel, wie der Wahllondoner sich schrieb, dem berühmten Kastratensänger Senesino gewidmet. Und immer wieder ist die Frage bei einer aktuellen Inszenierung, ob eine Frau in Hosen oder ein Countertenor die Rolle besser verkörpere. Ihre Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert feierte Händels Orlando jedenfalls mit Marilyne Horne, deren Koloraturkraft noch im Ohr ist. In Köln überzeugt der katalanische Counter Xavier Sabata. Seine Stimme ist nicht laut, aber stimmlich rund und gut geführt, vor allem zu gurgelnden Koloraturen in der Lage. In Rage oder im Wahnsinn herausgeschleudert, lassen sie dem Kahlköpfigen die Augen hervorquellen. Regisseur und Kostümbildner Rafael Villalobos verpasst ihm knall-gelb, steckt ihn in eine wahnsinnsgelben Faltenrock über Anzughose mit Krawatte und Jackett. Die Damen um ihn sind Dorinda in kobaldblau, Angelica in pinkrot, sowie ihr geliebter Medoro in französisch-grün, übrigens eine von Händel auch tatsächliche angelegte Hosenrolle. Das Personal bewegt sich auf einer modern abstrakt designten schrägen Bühnenfläche, deren Eck hinten mit einem Spiegel Eck, Neonleuchten begrenzt, wie zusammenstößt. (Bühne: Emanuele Sinisi)
Die Liebe: es muss genau abgewogen werden…
Auf dem Spiegel auch mal projiziert sind wehende Wolken, wenn in einer Arie mal wieder die Natur als Sinnbild eines inneren Wunschzustandes zitiert wird. Oder auf dem Boden der singende Mund des Magiers Zoroastres. Die Stimme kommt aus dem Off, und erst ganz zuletzt zeigt er sich in schwarz auf der Bühne zeigt. Diese Rolle hat Händel ins Epos hineingefügt. Ebenso wie die der Dorinda. Sie ist ebenso wichtig, und so etwas wie eine heimliche Hauptrolle. Denn Dorinda sinniert über die Liebe auf einer aufklärerischen Metaebene und liefert im letzten dritten Akt sogar die Quintessenz: Liebe verdreht wie ein wüster Wind den Kopf, und nach kurzen Glücksgefühlen kommt immer langer Schmerz. Aber ohne sie fehlt auch etwas ganz Entscheidendes. Es muss genau abgewogen werden. Maria Koroleva aus dem Opernstudio macht das ganz hervorragend. Und Orlando wird aus seinem Liebeswahn gegenüber Angelica, Thema im Orlando furioso, durch Schlaf geheilt und kann einsehen, dass es vernünftig ist, auch mal zurückzustecken. Sabina Puértolas bewältigt als Angelica die großen für Anna Strada del Pò konzipierten Arien. Großartig, wie sie einmal eine effektvolle Arienpause mitsamt Orchester einlegt, um sich die Zigarette anzuzünden. Das Publikum schmunzelt. Adriana Bastidas-Gamboa aus dem Hausensemble ist als Medoro ebenso gut besetzt wie Gast Gainluca Buratto als tiefenschürfender Priester – eine Vorwegnahme des Mozartschen Sarastros.
Im Continuo Barock-Spezialisten
Handlung gibt es eigentlich keine. Wenn zwei aufeinandertreffen reagieren sie mit Gefühlen aufeinander, die durch Händels Arienkultur wunderbaren Ausdruck erhält. Die ist sehr oft nur zweistimmig, Continuo-Bass und Gesangslinie. Das Continuo ist hier auch mit Spezialisten besetzt. Sören Leupold Chitarrone, Andreas Nachtsheim, Theorbe, Andreas Gilger, Cembalo. Aber es gibt auch mal eine Sologeige aus dem Gürzenich-Orchester. Oder das Continuo rumpelt im unisono mit der Gesangsstimme. Ganz wunderbar übernimmt Ulrike Schäfer das Continuo-Violoncello. Wie man Continuo spielt, lernt man nämlich nicht im Orchester. Rubén Dubrovsky macht seine Sache sehr gut, auch wenn klitzekleine Momente wie Auftakte oder Abprhasierungen nicht ganz zusammen sind. (So etwas wäre François Xavier Roth nie passiert)
Auf der Bühne Fuß fassen
Regisseur Rafael Villalobos dürfte glücklich sein, dass seine Produktion endlich auf einer Bühne Fuß fasst. Es ist dies erst die dritte Aufführung der Produktion überhaupt. Sie begann als Koproduktion auf dem katalanischen Opernfestival Perelada und erlebt Corona-bedingt nur eine Aufführung. Die besuchte ist also die dritte Aufführung der Produktion überhaupt.
Die Nicht-Handlung konnotiert Villalobos mit Virginia Woolfs Orlando-Roman, in der sie ihre Liebesbeziehung zu Vita Sackville-West verarbeitet hat. Einmal wird sie auch kurz zitiert – mit männlicher Stimme. Die Sackville gerierte sich in den 1920ern empörend im Anzug und Männerhut und das Genderspiel beeindruckte Woolf. Sinngemäß: „Ich schreibe über alles, was unsere Beziehung und Liebe ausmacht…“ Was man nun mit dem Schreibtisch inmitten der Bühne anfängt oder nicht, und warum Orlando darauf steht oder nicht und welche Bücher da deponiert sind, ist letztendlich gar nicht wichtig. Die Charaktere sind gut bewegt, auch mal in abstrakten Tai-Chi-Gesten oder lachen und kichern. Klar gerät eine Unterweltszene im abstrakten Design nicht szenisch ungeheuerlich. Das macht aber nichts. Denn es gibt keinen peinlichen Stillstand, und die Zuschauer bleiben bei den Sängern und Ihrem Gesang. Nur im Orchester gähnt mal ein Streicher.
Nach dreieinhalb Stunden ist man gestreichelt von viel grandioser Musik, so gutem Gesang. Und wenn es im Gegensatz zur bildlich in Szene gesetzten Alcina in Bonn eher abstrakt bleibt., es fehlt nichts. In Köln spielen die Gefühle, und mit welch subtiler Musik!
Der nächste Termin ist am 24.11.2024. Weitere Termine