„Frau, du bist der Fels, auf den ich meine Kirche baue…“ Im Demi-Choeur und im Schlusschor der „Danse des Morts“ (1940) Arthur Honeggers ist das biblische „homme“ mit „femme“ ersetzt worden. Im Nancy-Triptychon „Héroïnes“ – Heldinnen – folgerichtig! Sowohl in Hindemiths „Sancta Susanna“ (1922), als auch in Bartóks „Blaubart“ (1911) zuvor stehen starke Frauen im Fokus. Honeggers Chororatorium mit Solisten und einer Sprecherrolle, hier natürlich weiblich besetzt, ist eine Repertoire-Entdeckung. Eine weitere Heldin steht im Graben. Was den Klang des Orchesters unter Sora Elisabeth Lee angeht, bleibt nichts zu wünschen übrig. (Von Sabine Weber)
(6. Oktober 2024, Opéra Nationale de Lorraine, Nancy) Es klingt fantastisch in dem historischen Opernhaus. Aber es ist nicht nur die Akustik. Das Orchester hat sich unter seiner Chefin Marta Gardolińska gewaltig entwickelt. Und bewältigt Hindemiths, Bartóks sowie Honeggers Klangsprache impeccable. Gardolińska schickt sich derzeit übrigens nicht von ungefähr an, in eine große Karriere zu starten. Gerade hat sie ihr Debüt beim RSB gegeben.
Die Neuproduktion des Nancy-Tryptichons liefert unter Sora Elisabeth Lee eine rundum gelungene Saisoneröffnung. Intendant Matthieu Dussouillez, möglicherweise der jüngste Intendant auf europäischer Flur, beweist mit der Programmierung Spürsinn für das Außergewöhnliche aber auch das Zusammen-Fassbare. Wobei Hindemiths Sakralburleske Sancta Susanna und Bartóks Ritter Blaubarts Burg (Erster Teil vor der Pause) mit Honeggers nie aufgeführtem Totentanz – Dussouillez hat ihn schon seit längerem im Hinterkopf – eine musikalisch perfekte zweite Hälfte bekommt. Und dieses Oratorium spielt auch dem hauseigenen Choeur de l’Opéra Nationale de Lorraine in die Kehle (Leitung: Guillaume Fauchère).

Es ist allerdings auch das sperrigste Werk der Abendregie. Denn handelnde Personen gibt es keine. Paul Claudel hat nach Jeanne d’Arc au bûcher auch dieses Libretto für Honegger entwickelt. Inspiration sind wohl die Totentanz-Holzschnitte Hans Holbeins gewesen. Ausgangspunkt fürs Libretto lieferten Verse aus dem alttestamentlichen Buch Ezechiel. Wie das erste Oratorium ist La Danse des morts unter Paul Sacher in Basel uraufgeführt worden, hat sich als Bühnenwerk, anders als Jeanne d’Arc, aber nicht durchsetzen können. Mutig, es in diesem Tryptichon wieder auf die Bühne zu bringen. Zumal kein einfacher Stoff.
Zum Schluss liefert Gott den Toten eine neue Seele
Eine Sprecherin (Claire Wauthion) vermischt zu Anfang Gotteslob und Totenbilder. Im Wechsel mit dem Chor wird dann eine krude Vorstellung entwickelt, wie mit neuer Haut und Fleisch trockene Knochen demiurgisch zu Wiedergängern werden könnten. Zum Schluss müsse ihnen Gott nur noch eine neue Seele einhauchen. Und sie bekämen eine neue Lebenschance. (Das erinnert an die Oper Guercoeur von Magnard, siehe Klassikfavori-Besprechung)
Der Chor, eine Armee lebendiger Toten
Das hat schon etwas makabres. Der Chor wird also zur Armee lebendig gewordener Toter und dringt auf Marschmusik zur Bühnenrampe vor. Honegger hat das Volkslied Sur le pont d’Avignon parodistisch eingearbeitet. Es wird gesungen, dazu getorkelt und gewankt. Lustig ist das ganz und gar nicht. Die schwarzgrauen Chorgestalten greifen mit ihren Händen und Blicken aggressiv ins Publikum. Was Honegger mit dieser Überlagerung hat sagen wollen, bleibt offen. Auch die Regie löst das Fragezeichen nicht auf.
Mystik, Magie Erlösung
Honeggers Totentanz ist in jedem Fall ein gigantisch klingendes Memento mori mit faszinierender Musik, die allemal lohnt, wiederentdeckt zu werden. Dunkel, düster, ernst zu weiten Teilen, das liebte laut Selbstaussage Honegger am meisten, aber durchaus klangsinnlich austariert, vor allem fein instrumentiert. Der Choeur de l’Opéra National de Lorraine ist Hauptträger des musikalischen Geschehens und bewältigt seine Aufgabe mehr als ordentlich. Zudem gibt es ein gefühliges Lamento mit Baritonsolo (Yannis François). Und, für einen Protestanten wie Honegger doch ungewöhnlich, eine katholische Unio mystica, die im Duett mit Sopran und Alt (Apolline Westphal, Anaïk Morel) gefeiert wird. Mystik, Magie, Erlösung, das waren wohl während des Zweiten Weltkrieges hoffnungsspendende Sehnsüchte.
Das Fürchterliche der Bilder ohne Bild ins Bild gesetzt
Um Sehnsüchte geht es auch in den beiden Einaktern zuvor. Die drei durchscheinenden Wände des schwarzen Guckkastens, für das Totenheer abgefallen (Bühne: Basi Bińkowska), sind als Kloster- und Burgmauern noch geschlossen. Die Einheitsbühne dreht sich auch einige Male, soll heißen, Perspektiven verschieben sich. Alles andere übernimmt die Personenregie.

Aldridge im Forte oder zurückgenommen immer rund und klangschön
In dem kargen Setting – es gibt keine Requisiten – arbeiten sich im mittleren Stück des Tryptichons Judith und Blaubart, Rosie Aldridge und Joshua Bloom, wie in einem schwarz-weiß Hitchcock-Krimi ab. Es geht um Blicke in versperrte Räume, deren verbotener Inhalt ermittelt und imaginiert wird. Psychoanalytisch zu deutende Folterwerkzeuge oder Tränenmeere, auch vergossenes Blut sind Indizien. Die Personenregie schafft es – auf die Klänge aus dem Graben -, das Fürchterliche der Bilder ohne Bild ins Bild zu setzen. Am Ende bleibt offen, und das ist das Faszinierende, das dieses Werk zulässt, ob Blaubart wirklich ein Triebtäter und vorherige Geliebte ermordet hat oder sie doch nur Traumbilder oder Wunschbilder sind und Judith mit ihrer liebenden Hartnäckigkeit das Gegenüber von ihnen befreit und endgültig gewinnt. Aldridge ist stimmlich eine so großartige Judith, dass man ihr den Gewinn in jedem Falle zuspricht. Denn ob im Fortissimo oder zurückgenommen bleibt ihre Stimme rund, austariert, vor allem klangschön. Die Partie ist nicht ohne. Aber auch Bloom ist mit voluminös ausgeglichenem Timbre ein perfektes Pendant.
Hindemiths Skandaleinakter
Hindemiths Skandaleinakter über eine enthemmte Ordensfrau brachte bei der Uraufführung 1922 in Frankfurt den Bühnenvolksbund dazu, die Absetzung zu verlangen. Und das ist inzwischen eine kuriose Randnotiz: der Katholische Frauenbund setzte eine dreitägige Sühneandacht an, der Interkonfessionelle Verein zur Hebung der Sittlichkeit organisierte Buß-Vorträge.
Das Thema ist heute immer noch aktuell, mit und ohne religiösen Habit
Hier arbeiten sich zwei Nonnen an mönchischen Idealen und den Widersprüchen zu ihren leiblichen Bedürfnissen ab. Rosie Aldridge liefert der strengen Nonne Klementia ihre Stimme. Mit ihrem mächtigen „Sancta Susanna“ hebt die Vorstellung an. Und ihre Erzählung „…vor 30 oder 40 Jahren“ nimmt das Erlebnis vorweg, das Sancta Susanna, Anaïk Morel, in den erotischen Ausnahmezustand versetzt. Ekstase wird auch hier imaginiert. Wie Susanna ihren schönen Körper entdeckt und auf den einzigen verfügbaren Männerkörper wirft, Jesus am Kreuz. Nichts davon ist zu sehen. Anaïk Morel wälzt und krümmt sich, fährt gegen die Wand. Es wird gekniet und gebetet. Und auch die brennende Kerze, der duftende Busch bleiben der Vorstellung überlassen. Die Macht der Masse zieht in einer Reihe betender Schwestern nach vorn. Doch Susanna mit kupferrot wehendem Haar, sie hat sich die Haube vom Kopf gerissen, besteht als Individuum auf ihrer Selbstbestimmtheit und schreitet durch die Reihe nach hinten weg. Das Thema ist heute immer noch aktuell, mit und ohne religiösen Habit.
Die erstaunlich sinnliche Musik des Neutöners Hindemith regt die Vorstellung an und gibt dem dem Mittelalter zugeschriebenen Ausnahmezustand einer nach körperlichem Genuss gierenden Frau im Nonnenhabit menschliche Glaubwürdigkeit. Wenn es bei uns heißt, Hindemith klinge wie falscher Bach, trifft das hier klanglich nicht zu. Das Orchester schwelgt in feiner bis orgiastischer Tongebung.
Großartige Ensemble-, Chor- und Orchesterleistung
Regisseur Almeida verknüpft die drei Einakter mit einer Kinderfigur, die zu Anfang vor dem Vorhang das Publikum auffordert, selbst zu entscheiden, ob es um innere oder äußere Wahrnehmungen geht. Im letzten Stück taucht sie als stumme Rolle nochmals auf, steht bei gefallenem Vorhang immer noch davor, und fällt dann heftig atmend um. Das hätte es sicherlich nicht gebraucht, auch nicht, dass Sancta Susanna und Judith in Honeggers Totentanz nochmals auf der Bühne auftauchen.
Die Opernstadt Nancy im Aufwind
Denn dass sich mystischer, religiöser oder wahnhafter Ausnahmezustand nahe sind, beweisen die Werke allein. Und wie perfekt ein Deutsches, Ungarisches und Französisches in dem Nancy-Tryptichon zueinander passen. Dem großartigen Sängercast, Chor- und Orchesterleistung darf man zudem gratulieren. Und auch der exquisiten Werkzusammenstellung. Das Nancy-Tryptichon ist eine Erfolg. Die kleine französische Opernstadt Nancy ist ja längst im Aufwind…