Wenn der Intendant vor der Aufführung zum Mikrofon greift, gibt es eine traurige Krankmeldungen. Diese war aber kurios. Am Premierentag morgens sagt Charlotte Quadt ihren Auftritt als Ruggiero ab. Der Ersatz für die berühmte Kastratenrolle wird Nachmittags mit dem Countertenor Ray Chenez in Wien gefunden. Der bleibt im Flughafenterminal stecken, weil mindestens zwei Stunden zwischen Buchung des Fluges und Abflug liegen müssen– also wurde auf später umgebucht. Das klappt, aber er sitze jetzt noch im ICE von Frankfurt nach Köln. Also wurde Charlotte Quadt gebeten, die Bühne nicht im Regen stehen zu lassen, sondern bis zu dessen Eintreffen mit zumachen. Wobei Regisseur Jens-Daniel Herzog als szenischer Ersatz zwangsverpflichtet, Ray Chenez sollte von der Seite singen, bereits im Kostüm stecke. Also beginnt es mit Charlotte Quadt, die einen hinreißenden Lover spielt, noch schöner singt und … bis zuletzt durchhält! (Von Sabine Weber)
(10. November 2024, Theater Bonn) Irgendwann huscht auch Ray Chenez an seinen vorbereiteten Platz im Proszenium links, liest in der Partitur mit und schaut auf die Bühne hoch. Zum Einsatz kommt er nicht. Man hätte diesen hochgelobten Newcomer doch gern auch gehört. Aber Charlottes Quadts Ruggiero-Darstellung lässt – Dank Bühnentestosteron – von der ersten bis zu letzten Minute der dreieinhalb Stunden nichts zu wünschen übrig. Sie/Er hat bei weitem die schönsten Arien, denn Händel legte sie damals dem Kastraten-Star Carestini zu Füßen, unter anderem die berühmte Arie „Sta nell‘Ircana“ des letzten Akts.
Alcinas Zauberinsel – eine Lusthöhle?
Hinreißend schön und äußerst elegant verführerisch im Stile der 20er Jahre gekleidet ist Alcina, Marie Heeschen, die stimmlich allerdings ein bisschen wie mit gezogener Handbremse singt. Während Ruggieros eigentliche Braut, Bradamante, Anna Alàs i Jové, von der Statur her zwar an einen Kobold erinnert, der allerdings mit Bravour-Koloraturen den Zuhörern die Kinnlade herunter fallen lässt. Sie und ihren Begleiter und Mitstreiter Melisso, Pavel Kudinov, steckt Kostümbildnerin Sibylle Gädecke ins Schottenkaro. Den Mann in den Rock, die Frau mit Wollberry als Mann verkleidet in eine lindgrüne Uniform. Ihr erster Auftritt, mit den berühmten Koffern in der Hand, passiert im Bühnenregen, denn der Sturm steht in der Partitur. Vor der undurchdringlichen Wand, die die Lusthöhle, beziehungsweise die Zauberinsel Alcinas schützt, kämpfen Sie sich mit Regenschirm gegen Wind und Wetter die Rampe entlang.
Gesangsszenen belebt mit komisch amüsanten Aktionen
Dann brechen die Burgwände wie ein Tor auf und das Paar steht in einem gelblich leuchtenden Wellness oder Parkhotel-Foyer – „mediterranes Flair“ – der gehobenen Sorte. (Bühne: Mathis Neidhardt) Eine Rundwand dreht mehrmals neue Räumlichkeiten hinzu, eine Dusche oder eine Dampfsauna. Alcinas Schwester Morgana, mit der in den höchsten Lagen tirilierende Gloria Rehm unter Merlin Monroe-Perücke, versucht weiter, Bradamante anzumachen. Das gibt ihrem Partner Oronte, Stefan Sbonnik, der einen äußerst komischen Eifersüchtigen zu mimen versteht, und den trockenen Schottensoldat Melisso, der Bradamante zu schützen hat, vielfältigst Gelegenheit, äußerst komisch aktiv zu werden. Darauf versteht sich Jens-Daniel Herzog vorzüglich, nicht nur keinen Leerlauf zu produzieren, sondern die Gesangsszenen mit komisch amüsanten Aktionen zu beleben.
Kein oberflächlich-heiteren Rokoko-Lustspiel
Die anfängliche Befürchtung, hier würde Barock wieder mal zum oberflächlich-heiteren Rokoko-Lustspiel degradiert, bestätigen sich nicht. Und die fabulös tanzenden und spielenden Zauberboys von Alcina (Choreografie: Ramses Sigl) zeigen in rudimentärer Kellnerausstattung nicht nur männlich anzügliches Fleisch, sondern sind eine gelungene moderne Entsprechung von Marie Sallés damaliger Tanztruppe. Für die hat Händel auch die Tanzeinlagen komponiert.
Oberlinger bringt Orchester und Sänger fantastisch durchs barocke Spiel
Mit anderen Worten, die Bonner Alcina ist grandios. Auch musikalisch mit Dorothee Oberlinger im hochgezogenen Orchestergraben, die ein herkömmliches Opernorchester fantastisch durchs Barocke Spiel bringt. Das Tutti, natürlich eine reduzierte Größenordnung, spielt mit Verve und Schwung. Ein improvisiertes Violin- und ein Violoncellosolo erinnern daran, dass in Händels Londoner Orchestern fantastische Musiker saßen und sich auch einbrachten. Einzig beim Continuo-Cellisten merkt man, dass das Continuospiel mit Orchestererfahrung nichts zu tun hat. Theorbe und Cembalo sorgen wiederum für sehr barocke Klangfarben. Und in der berühmten Ruggiero-Arie sind dann auch originale Barocktrompeten zu hören. Blockflöten müssen bei der Blockflötistin Oberlinger sein. Die Piccoloflöte im ausgelassen turbulenten Schlusstamburin spielt aber diesmal nicht sie.
Mit Gasmaske im Wellness-Nebel
In der Ausgelassenheit wirft die Regie immer wieder auch Fragen auf. Was ist Treue, was ist Liebe, und ist die Lustwelt im Gegensatz zur kriegerischen Alltagswelt nicht doch ein wünschenswertes Traumszenario? Also nicht einfach nur schlecht! Alcina verliert ja ihren Geliebten, obwohl sie überzeugend zum Ausdruck bringt, dass sie nicht als Zauberin, sondern als Frau mit Fleisch und Blut liebt. Händel hat nach seinen Arien durchaus Sympathie für die Zauberin, die seit Ariosts Kreuzfahrer-Epos Orlando furioso Karriere auf den Opernbühnen macht. Ruggiero scheint auch mehr der Pflicht zu folgen als seiner Geliebten Bradamante. War das Sarkasmus, dass Melisso Ruggiero mit der typischen Gasmaske des Ersten Weltkrieges im Wellness-Nebel zur Pflicht ruft. Steht etwa wieder ein Krieg an? Die Sympathien sind am Ende bei Alcina, die zurückgestoßen alles verliert. Solisten und Chor, mit Koffer in der Hand, sammeln sich, um sie zu verlassen. Und so glücklich der Chor auch klingt. Es klingt verordnet. Ein glückliches Ende war in dieser Zeit aber gesetzt. Dass auch noch Nicole Wacker in der Pagenrolle des Oberto eine Bravurarie kurz vor Schluss bekommt, und Stefan Sbonnik als Oronte brilliert und doch wieder zur Fremdgängerin Morgana findet, sind glückliche Überraschungen gewesen. Und die Publikumsreaktion bewies es, Händels Alcina ist in Bonn ein voller Erfolg!