Es macht doch keinen Spaß, Texte über Alte Musik zu lesen, wenn sie praxisfern konstruierten Fragestellungen nachgehen, durch die Faser nur „Selbstzweck“ schreien, weit und breit kein innovativer Mehrwert im Gesamtzusammenhang für die Musik zu entdecken ist und Wichtigtuerei ihres Herausgebers unterstellt werden kann. Natürlich verfolgt auch Reinhard Goebel immer einen Selbstzweck. Und sicher auch sein Herausgeber Hans-Joachim Wagner, der die Texte von und Interviews mit Reinhard Goebel aus den letzten 40 Jahren herausgegeben hat. Goebel zu lesen, ist ungemein unterhaltsam. Seine Texte geben überraschende und ganz persönliche Sichtweisen über das Werk einiger Komponisten preis. Wenige Komponisten zwar, aber diese standen im Mittelpunkt der Goebelschen Arbeit über Jahrzehnte. Das Buch „Reinhard Goebel. „Der Kopf macht die Musik“. Texte zur Musik. Essays. Interviews. Würdigungen“, beim Verlag Kamprad dieser Jahr erschienen, ist nicht nur für die Insider der Alten Musik lesenswert. (Von Sabine Weber)
Als Musiker, als Gründungsleiter von Musica Antiqua Köln, als Dirigent und natürlich auch als Textverfasser ist Reinhard Goebel immer schon ein süffisanter Informant seines eigenen Tuns gewesen. Goebel hat auch wirklich etwas zu sagen. Sein Erfahrungsschatz ist glaubhaft. Und Goebel weiß nicht nur, wovon er spricht, er kann seine Meinungen auch brillant formulieren: eloquent, spitzzüngig, er würzt scharf, sticht zu, gibt dem Leser aber fast immer auch Stichhaltiges zum „Warum“ seiner Argumentation an die Hand. Und gerade wenn er tendenziös wird, ist er ungemein witzig.
Nicht wirklich kompatibel
Dieses pulsierende Goebel-Universum fordert durchaus den Widerspruch. Jeder in der Kölner Barockszene und darüber hinaus wusste, dass der enerviert ruppig expressiv auf bizarr gebürstete italienisch-deutsche Geigenspiel-Gusto Goebels und seines Ensembles mit dem französischen Stil nicht wirklich kompatibel ist. Es hatte auch andere Gründe, warum Goebel und Musica Antiqua die Filmmusik mit Werken Jean-Baptiste Lullys zu Le Roi danse von Gérard Corbiau einspielen durften. Dazu den Soundtrack, wozu der in diesem Buch abgedruckte Text im Booklet ursprünglich erschien.
Exaltierte Kameraschwenks
Vielleicht gibt es nicht von ungefähr bei der Orthographie des Regisseurnamens einen der wenigen Schreibfehler in diesem Buch. Mit französischer Musik zur Zeit Louis Quatorze und Quinze hat sich Goebel wahrlich nie ausgezeichnet. Aber die Filmstiftung NRW förderte damals den ambitionierten belgisch-französisch und damit auch deutschen Jean-Baptiste-Lully-Film. Und weil NRW-Beteiligung gefordert war, tanzte der goldig eingeölte Sonnenkönig in den Kölner MMC-Studios zur Musik Lullys, gespielt vom Berühmtheitsgrad einzig dafür in Frage kommenden Kölner Barockensemble. Musica Antiqua Köln. Der von Goebel italienisch gegengebürstete Soundtrack passte schlussendlich ja auch nicht schlecht zu den exaltierten Kameraschwenks mit Blick unter gehobene Röcke beiderlei Geschlechts, mit denen Corbiau jenseits aller Historien-Recherche natürlich auch dem Barockklischee huldigte.
Quantité Negligeable …
Bemerkenswert bleibt, wie Goebels Text zum Soundtrack sich gekonnt aus dem persönlichen Widerspruch windet. Mit der „Tellerwäscher zum Millionär“ – Legende erst hochgejubelt, deplatziert er Lully als kommoden und seichten Komponisten durch ein Zitat Johann Joachim Quantz bald schon wieder und kanzelt dann französische Musik per se als Staatsmusik ab, also als klingende Propaganda, die das intellektuelle Höhenniveau einer absoluten Musik, sprich einer Sonate nie erreichen könnte.
Goebel formuliert einleuchtend. Und schmeckt dann ausgerechnet mit französischen Begriffs-Manirismen ab – die Quantité Négligeable ist einer seiner liebsten – als würde er, was er an der desavouirten Musik für künstlich hält, ganz gern zumindest im Text kultivieren. Mit ironischer Distanz, versteht sich.
Ein bisschen Verbitterung?
Gern fällt Goebel auch mit Bonmots auf, lästert über eine „voll verdudelte Umwelt“, „ein(en) auf der Geige dilettierende Dandy“, den „Lifestyle-Firlefanz“. Man sieht ihn dabei förmlich den Mund verziehen. Wenn er über sich selbst herzieht, nimmt er auch kein Blatt vor den Mund. Wie konnte man ihm bloss die Laudatio bei der Verleihung des Telemann-Preises für Nikolaus Harnoncourt 2004 anvertrauen, ihm, dem „sarkastisch, kritisch und boshaft (B)erüchtigt(en) und entsprechend (B)eliebten“, bzw. Nicht-Beliebten, ein bisschen Verbitterung spürt man da doch heraus. Und natürlich hätte man nach der Laudatio doch lieber gewusst, wie der kritische Kopf Goebel Harnoncourt wirklich eingeschätzt hätte, diese Ikone der Alten Musik, die, weil er als gelernter Cellist den Unterhandgriff auf der Viola da gamba nicht hinbekommt, kurzerhand den Gambenbogen mit cellistischem Oberhandgriff durch die Bachischen Gambensonaten pflügt und das Bild auf dem Cover kurz oberhalb des Bogenarms abschneiden ließ, damit es nicht zu sehen ist…
75-CDs umfassende Gesamtaufnahme – leider ausverkauft
Eine Überraschung ist, wie sich Goebel nach seiner Musica Antiqua Zeit als Dirigent anderer Ensembles mit Georg Philipp Telemann auseinandergesetzt und diese mit höchst interessanten Texten gekrönt hat. Die über in Dresden wirkende Komponisten wie Pisendel und Veracini machen auf die dazu gehörigen Aufnahmen richtig neugierig. Zum 70. Geburtstag von Reinhard Goebel gab es sogar eine 75-CDs umfassende Gesamtaufnahme. Leider scheint sie dauerhaft ausverkauft. So darf man sich an einen bisher unveröffentlichte Text über Vivaldis Vier Jahreszeiten und deren Interpretationsirrwege im Zusammenhang mit Arcimboldo-Bilder halten. Ganz ohne klingende Interpretation!
Vergnügte Ruh`?
Ein Interview mit Johannes Janssen für Concerto, Magazin für Alte Musik, wie auch weitere nochmals abgedruckte am Ende des Buches bringen den Menschen Goebel dann doch auch etwas näher. Denn im ersten Artikel dieses Buches, Vergnügte Ruh‘ überschrieben, hat Goebel die Auflösung seines Ensembles in typischer Goebelmanier bissig rechtfertigt. „… Es dürfte verständlich sein, dass ich mir mit 55 Jahren als „etablierter Marktverstopfer“ kein echtes Pläsier bin.“ Vorausgegangen ist dem Ensemble-Ende aber nicht nur der langjährig dauernde Versuch, nach einer fokalen Dystonie der Griffhand 1989 die Geige seitenverkehrt zu spielen. Das konnte nicht wirklich gelingen, muss aber für den Ich-schaffe-alles-Aktivisten- eine Enttäuschung gewesen sein. Und letztendlich löste der furchtbare Unfall seines letzten herangezogenen Konzertmeisters dann den roten Knopf für das Ensemble-Ende aus. Mir präsent, weil mich mein Mann damals aus der Uniklinik anrief, „da ist ein Musiker als Notfall eingeliefert worden, den Du kennen musst…!“
…erste französische Sonaten-Versuche – es gab sie doch
Gerade weil Goebels bahnbrechende Spezialität als Musica-Antiqua-Köln-Chef deutsche Komponisten von Westhoff über Buxtehude bis Pachelbel waren, dazu die in Dresden wirkenden Virtuosen Pisendel und Veracini, sind Goebels Auslassungen zu den Concerts Spirituel und ersten französischen Sonaten-Versuche – es gab sie natürlich doch – höchst lesenswert. Was galante Musik von der barocken abgrenzt, hat Goebel mir erstmals nachvollziebar in einem hier veröffentlichten Booklettext erklären können. Anschaulicher als jeder Musikwissenschaftler es könnte.
Wie ein Tsunami in der Scharchgurkenszene
Dieser Kopf hat die Alte Musik auch mit sich stets im Selbststudium angeeigneten Wissen zum Werk, einer klar konfigurierten Meinung und letztendlich natürlich einer eigenen Stilistik, die wie ein Tsunami durch die amateurhafte Schnarchgurgkenszene fuhr, nachhaltig geprägt. Das musste und hat auch nicht allen gefallen. Jetzt ist dieser Tsunami noch einmal in diesen nachträglich zusammengestellten Booklettexten und auch den Interviews, nicht zuletzt den Lobreden anderer auf die eigene Person, nach zu vollziehen. Zudem sind es Booklettexte, die bei CD-Neuveröffentlichungen höchst wahrscheinlich gekürzt oder gar ganz wegfallen würden. Sie nochmals zu bündeln ist ein Wissenserhalt, der absolut berechtigt ist.