Fish ‘n‘ Chip? Im Finale des Zamus: Early Music Festival ein philosophisch-schauspielerisch-musikalischer Auftritt der besonderen Art!

„Fish ‘n‘ Chip“- „Quo vadis?“ klingt ambitioniert für ein Alte-Musik-Festival-Konzert. Chip bezieht sich auf den IT-Bereich. Die Chips zum Knabbern sind also nicht gemeint, obwohl eine Künstlerin gleich auf der Bühne ständig knabbert. Die Wohin-Frage rekurriert auch nicht auf das berühmte Bibelzitat oder den Roman von Henryk Sienkiewicz, großartig verfilmt mit Peter Ustinov. „Evolution“ ist das Motto dieses Festivals und soll zur Debatte gestellt werden. Von Ira Givol initiiert. Wohin geht aber die Reise? Ja, welche Reise? Dazu wächst zu allererst das Ensemble des Abends über sich hinaus. Die fünf Musiker:innen (zamus: kollektiv) singen, schauspielern und einer tanzt, und die Schauspielerin (Honolulu-Star Production) greift zum Instrument. Alle improvisieren auch. Sie spielen miteinander und musizieren vor allem vorzüglich. Ein unterhaltsamer kammermusikalischer Musiktheaterabend! (Von Sabine Weber)

Andreas Gilger – Cembalo, Norbert Rodenkirchen – Flöten, Yves Ytier – Violine, Ira Givol – Viola da gamba, Justyna Sliwa – Bratsche. Im Hintergrund Aischa-Lina Löbbert. Foto: Sonja Werner

(28. Mai 2022, Balloni Hallen, Köln) Musik fällt bei cross-over-Projekten oft zu allererst unter den Tisch. Das war hier ganz und gar nicht der Fall! Yves Ytier, Violine, Cembalist Andreas Gilger, Flötist Norbert Rodenkirchen, auch mit Knochenflöte aus Schafsbein zu hören, Ira Givol, Gambist, eigentlich ist er künstlerischer Leiter des Festivals, musste aber für eine an Corona erkrankte Kollegin mal eben einspringen, und die Bartscherin Justyna Sliwa, bekannt als Mitwirkende beim Asasello-Quartett und eigentlich Spielerin auf einem modernen Instrument, sorgen für großartige Musikmomente.

Die Vocalise „For the beginning of time“ aus dem Kultstück Vox Balaena von Georges Crumb auf einer Renaissanceflöte mit Multisonics performed, und nicht der modernen Querflöte, ist sogar ein richtiges Erlebnis! Oder die Beschleunigung von 0 auf 100 sozusagen aus dem Stand in den vierten Satz (rasendes Zeitmaß, Tonschönheit ist Nebensache) von Paul Hindemiths Viola-Solosonate op. 25 Nummer 1 hinein gesprungen, die sofort für Aufruhr sorgt.

Neue wie Alte Musik sind also in der kollektiven Auseinandersetzung

Dabei sahen die Musiker wie liebe Märchenillustrationen aus und sind auch sehr poetisch durch Trockeneisnebel (Bühne und Regie: Jens Kublik und Barbara Streil) hineinstolziert: in weißen wattebauschige Sandmann-Wolken-Knubbelkostümen (Kostüme: Justyna Sliwa) mit zum Teil Glatzen-Aufsatz auf dem Kopf. Zu erkennen aber dann doch der Professor mit seiner Einstein-Frisur, der Philosoph in römischer Toga, Amor mit zwei Pfeilköchern am Rücken, oder eine Diana mit vielen Knubbelbrüsten am Vorderteil. Nur der Geiger Ives Ytier steckt in einem silbernen und Figur-betonenden Ganzkörperanzug. Er fällt aus dem Figuren-Quintett heraus. Denn, vielleicht etwas zu penetrant im Laufe des Abends, er muss immer wieder den Roboter geben. Es geht eben um die Zukunft! Um KI, um Cyber um Algorithmen … Als Absolvent einer modernen Tanzausbildung an der Folkwang weiß der gebürtige Chilene sich jedenfalls in beeindruckender Weise zu bewegen. Macht auch mal stampfend die Rhythmusmaschine zu Fistula Mortale von Johannes Fritsch. Geigen kann er ebenfalls. Und Rollen verschmelzend wiederholt er „Robotermäßig“ ein Motiv, bis daraus die „Sonnerie de Mont Sainte Geneviève“ startet. Ist ja auch ein ziemlich motorisches Stück von Marin Marais. Violine und Viola da gamba müssen seitenweise die immer gleichen Formeln wiederholen, die allerdings auch immer wieder elegant ausbrechen. Ein Glockengeläut soll das darstellen. Das muss Anfang des 18. Jahrhunderts den Parisern wegen der vielen Kirchen schier den Verstand geraubt haben. In den Balloni Hallen läutet es in aberwitzigem Tempo, was wohl vor allem den Gambisten ins Schwitzen gebracht hat. Entspannter wirkt er bei Antoine Forquerays „Carillon de Passy“, ebenfalls eine Art Geläut und eine Pièce de viole mit immer wiederkehrendem Rondeau. Neue wie Alte Musik sind also in die kollektiven Auseinandersetzung mit Texten von Paul Auster, John Cage, Bela Bartok, TS Elliot, Nele Stuhler eingepasst.

Amöben, „Bäh” – „spucke ich aus”

Am besten spricht und schauspielert von den Musikern Cembalist Andreas Gilger. Den größten Aktions- und Textteil übernimmt natürlich die Schauspielerin Aisha-Lina Löbbert. Sie hat die Texte auch zusammengestellt. Wobei alle Beteiligten zur Auswahl beitragen durften. An die Musik erinnert man sich noch lange. Aber schon bald nach Konzertende versagt die Erinnerung an die Worte. Worum es in jedem der vielen und vielseitigen über Eineinviertel Stunde gegangen ist? Urknall, Amöben, Schaf „Bäh“ „Gib‘ mir das!“ – „nein“, „passt, spucke ich aus“, also komische groteske alltägliche Dialoge und Wortspiele, neben gelehrten Ausführungen und Aussagen, Bälle, die sich die Musiker zuwerfen. Und selbst die döfsten Dialoge „ich mag nicht mehr“ wirken dennoch nicht platt. Alles fügt sich als wäre das ganze eine improvisierte Musikprobe in Szene zu erleben! Es endet natürlich mit einem großen Fragezeichen, mit Bachs rästelhaftem Fugenfragment aus der Kunst der Fuge, das abbricht und auch nach Vorschrift im Lauf abgebrochen wird.

Schön wäre es vielleicht gewesen, den Text hinterher nachlesen zu können

Aischa-Lina Löbbert, Gründerin der PERFORMMusik Honolulu Star Productions, hat sich zu diesem Zeitpunkt längst aus einem Knubbelkokon herausgewunden, immer mehr Kleidungsstoff verloren, einen Pas de deux mit Yves Ytier getanzt und liefert sich mit ihm zum Schluss auch noch eine furiose Verfolgungsjagd um das Ensemble herum. Die heterogene Textmenge bewältigt sie problemlos, auch mal als Melodram auf eine Cembalopièce von François Couperin angebracht. Vielleicht gäbe es insgesamt noch einige Kürzungsmöglichkeiten. Insgesamt aber ein gelungener Musiktheaterabend. Das Publikum – es war nicht ganz ausverkauft – applaudiert begeistert und ist gesättigt! Schön wäre es vielleicht gewesen, den Text hinterher nachlesen zu können. Aber in dem kleinformatigen Programmheft war wohl dafür kein Platz.

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