Die Uraufführung von Philippe Manourys Lab.Oratorium. Der Erlebnisbericht einer Choristin zwei Monate später!

Das war sicherlich ein Höhepunkt dieser Konzertsaison. Im Mai hat Philippe Manoury seine dem Gürzenich-Orchester und der Kölner Philharmonie gewidmete Trilogie mit dem Lab.Oratorium für Stimmen, Orchester und Live-Elektronik vollendet und das aktuelle Thema Flucht und Drama im Mittelmeer in einem grenzüberschreitenden Projekt umgesetzt. Unter der Leitung von François Xavier Roth wurde das Publikum umringt und durchflutet von Klängen und Akteuren, zu denen Amateure gehören sollten und gehört haben. Eine Sängerin aus dem Lab.Chor ist noch mehr als einen Monat später voller Eindrücke. Wir sitzen in einer Bar. Die Partitur des Lab.Chores liegt auf dem Tisch, mit Unterschriften von François Xavier Roth und Philippe Manoury. Ziemlich unleserlich! Aber Elisabeth Fétizon wollte sie sich unbedingt signieren lassen. Sie ist Französin, lebt seit 35 Jahren in Köln und hat im Amateurchor der Kölner Uraufführung mitgemacht. Die Erinnerungen sprudeln aus ihr heraus, sodass ich mit dem Schreiben kaum nachkomme. Zufälligerweise war sie auch in Paris, als das Werk seine französische Erstaufführung erfuhr, und konnte im Publikum noch einmal eine völlig neue Perspektive erleben. Hier die Stationen einmaliger Erlebnisse in einer ganz persönlichen Nachlese von Elisabeth Fétizon.
Ich bekam eine Anzeige vom Stadtanzeiger zugemailt. Für ein Projekt in der Philharmonie werden Amateurchoristen gesucht! Bei einer Mailadresse sollten Namen, Geburtsdatum und ein paar Stichworte zur musikalischen Bildung durchgegeben werden. Das französische Projekt hat mich sofort angesprochen, und in der Philharmonie einmal auf dem Podium stehen zu dürfen! Dass der Text dann doch auf Deutsch war, erfuhr ich bei den Proben. Aber den Philharmonie-Saal habe ich tatsächlich wie nie zuvor erlebt. Ich durfte von hinten die Treppen durch das Parkett hinab zum Podium und dann auch übers Podium wandeln. Im zweiten Teil sind wir sogar mit brennenden E-Kerzen in Serpentinen über die Wendeltreppen und durch die Reihen gezogen.
Doch der Reihe nach! Die Antwort, dass ich genommen werde, hat mich überrascht und gefreut.
Die Chorproben starteten mit Chorleiter Michael Ostrzyga und Christoph Schnackertz am Klavier. Sie fanden in der Musikhochschule und an der Universität in einer Aula statt. Wir waren am Anfang ungefähr 100 Sänger. Zum Schluss waren wir nur noch 70. Vor allem Männer, viele Tenöre, sind ausgestiegen. Die Proben waren auch eine Herausforderung. Es wurde von uns eine unglaubliche Disziplin verlangt. Zwischendurch durfte nicht gesprochen werden, schon gar nicht, wenn der Chorleiter sprach. Er war sehr streng und schien unglaublich unter Druck zu stehen. Vielleicht hatte er Angst, dass er uns nicht so weit bringen würde, wie es François Xavier Roth und Philippe Manoury erwarteten, wenn wir zur Hauptprobe erscheinen würden. Das war anstrengend. Zur dritten Probe erschien bereits Manoury und zeigte sich von unserem Klang überzeugt und zufrieden. Das gab uns ein gutes Gefühl. Hussein Pishkar kam dann als musikalischer Assistent Roths und späterer Kodirigent einmal dazu. Er hat zugehört. Ein junger Typ und Inbegriff eines Künstlers, der sich offensichtlich als Künstler versteht, das hat mir gefallen! Und mich ebenfalls motiviert! Nicolas Stemann, Regisseur des Stückes, kam auch, um uns sein Ideen vorzustellen. Was mich überrascht hat war, dass er so locker war und dennoch so interessiert.
Spannend war auch, wie sich die Choristen verhalten haben. Einige waren ständig dabei, die anderen zu belehren. Andere zeigten sich total offen und hilfsbereit, einer konnte nur auf einem Ohr hören und wollte links stehen. Einige haben die Augen geschlossen und wie in einer Meditation gesungen.
Uns wurden auch Files geschickt, die wir anhören sollten, um sie auswendig zu lernen, wenn es denn möglich wäre! Wir haben Anfang April angefangen und hatten sechs bis acht Proben. In der Woche vor der Premiere ging es in die Kölner Philharmonie. Das war für mich absolut faszinierend, wie jetzt alle zusammen gearbeitet haben. Bis auf das SWR-Vokalensemble waren alle da: das Gürzenich-Orchester, zwei Schauspieler, die zwei Sänger, Roth, Manoury, unser Chorleiter, der Regisseur, die Regieassistenten, die Techniker… Alle rannten durch den Raum, jeder hatte ein Headset auf dem Kopf oder ein Mikrofon in der Hand. Überall wurde kommuniziert, gerannt, gearbeitet. Und in kürzester Zeit stand die Regie. Wir saßen da und haben gewartet oder haben getan, was sie uns baten zu tun. Wie jeder auf den anderen gehört hat und wie mit einander gearbeitet wurde, das hat mich beeindruckt. Überhaupt, dass es so viele Leute waren. Selbst hinter jeder Tür, die für die Inszenierung geöffnet und wieder geschlossen wurde. Einige von uns, wir waren alle schwarz gekleidet, aber im ersten Teil trugen einige bunte Jacken, die mussten sie hinter einer Tür abgeben. Die wurden in Empfang genommen. Nicht zu vergessen in der Pause in der Kantine die Leute hinter dem Tresen, die uns mit Brötchen und Getränken versorgt haben. Die Philharmonie ist ein Kosmos voller Menschen! Das merkt man ja gar nicht, wenn man im Konzert ist. Vor den Philharmonieproben hat unser Chorleiter auch noch einmal im Filmforum im Museum Ludwig oberhalb der Philharmonie mit uns geprobt. Er war unermüdlich, uns zu verbessern. Unsere Raumwege haben wir schneller gelernt als die Partitur.
In der Generalprobe kam das SWR-Vokalensemble dazu. Wir standen in den Balkonen hinten dem SWR-Vokalensemble. Unsere Einsätze waren plötzlich schwer, weil sie manchmal einen Schlag nach dem Vokalensemble kamen. Roth schleuderte aber alle Einsätze in unsere Richtung, und ich wusste zunächst nicht, welcher Einsatz für mich sei. Es spielte sich dann aber relativ schnell ein. Wir spürten allerdings jetzt auch, wo es noch nicht perfekt war.

Philippe Manoury bei den Vorbereitungen. Foto: Gürzenich-Orchester 2019
Philippe Manoury bei den Vorbereitungen. Foto: Gürzenich-Orchester 2019

Dann kam die Premiere. Eine unglaubliche Emotion spürte ich bereits bevor es losging! Einmal in meinem Leben ein Teil einer Musikinszenierung zu sein, nicht im Publikum, sondern Akteurin! Wow, was für ein Glück! Das hat mich überwältigt. Und dann war es so schnell vorbei. Ein besonderer Moment war, als wir von hinten hineinkamen mit den E-Kerzen und runter durchs Publikum zum Podium zogen, zu einer ganz leisen Musik aus dem Orchester. Da spürte jeder wohl eine unglaubliche Konzentration. Ich fühlte mich, als sei ich eine der Toten im Mittelmeer, stellvertretend für die vielen ertrunkenen Flüchtlinge.
Was mich auch beeindruckt hat, war, wie toll das SWR-Vokalensemble uns gegenüber geklungen hat. Das ist mir natürlich sofort aufgefallen.
In besonderer Erinnerung bleibt, wie freundlich uns François Xavier Roth und Philippe Manoury begegnet sind. Das hat mich unglaublich berührt. Und mir imponiert. Sie haben uns ganz offen angesprochen. Manoury war ansprechbar! Schon bei der ersten Probe, zu der er kam. Ich bin ich einfach zu ihm hin und habe ihn als einzige Französin im Chor Willkommen geheißen. Und er hat zehn Minuten mit mir über die Texte gesprochen. Er hat mir erklärt, dass die deutschen Texte ihm sehr wichtig sind. Auch in Paris würden die Texte von Elfriede Jelinek, Ingeborg Bachmann, Georg Trakl und Hanna Arendt auf Deutsch gesungen oder gesprochen.
Nach der Premiere habe ich Peter Busmann, den Architekten der Philharmonie, getroffen. Ich habe ihn kurzerhand mit Manoury bekannt gemacht. Peter Busmann hat mit ihm über seine Idee des Raumes in der Philharmonie gesprochen. Den Raum, so Peter, habe er ganz bewusst so angelegt, dass man vom Podium aus durch viele Gänge durch das Publikum nach oben und außen laufen kann. Er habe damit eine Möglichkeit schaffen wollen, den Raum anders zu nutzen. Und diese Möglichkeiten habe Manoury, zusammen mit Regisseur Nicolas

Philippe Manoury und Nicolas Stemann bei den Vorplanungen. Foto: Gürzenich-Orchester 2019
Philippe Manoury und Nicolas Stemann bei den Vorplanungen. Foto: Gürzenich-Orchester 2019

Stemann, jetzt ausgenutzt. Die Sänger, die Schauspieler und die Choristen haben diese Wege für das Lab.Oratorium genutzt. Eine Sängerin ist sogar eine Skyline oberhalb des Publikums abgeschritten. Das sei die Bestätigung einer Idee nach 30 Jahren! Das muss Peter sehr befriedigt haben, und er hat sich auch sichtlich gefreut, dass die Möglichkeiten, die die Architektur bietet, so genutzt worden sind. Das war übrigens auch der Grund, warum Manoury mit diesem Stück in die Elbphilharmonie und in die Philharmonie de Paris wollte. Das seien moderne Saalbauten mit ähnlich offenen Wegen zwischen Akteuren und Publikum.
Noch einmal intensiver habe ich dann das Gesamtwerk in der Pariser Philharmonie erlebt. Zufälligerweise war ich zu diesem Zeitpunkt dort. Der Raum wurde noch stärker eingenommen. Allein durch die Verteilung des Orchesters. Spieler des Gürzenich-Orchesters saßen oben rund ums Publikum verteilt. Manoury hat wieder an seinem Computer mitgearbeitet. Dieses Mal gingen seine elektrischen Sounds noch viel deutlicher um mich rum. Wie ein Tornado sind die elektronischen Klänge von einem Lautsprecher zum anderen gewandert. Weil ich im Publikum saß, ist mir das noch deutlicher aufgefallen, und auch, wie vielfältig die Stilmittel sind. Das Orchester, das SWR-Vokalensemble und der Lab.Chor, alle im Raum verteilt. Ich habe mich ständig umgedreht, um zu verstehen, woher die Musik kommt. Die Mischung der Texte, mal gesungen von Solisten, mal vom Profichor, dann vom Amateurchor, der mehr oder weniger allerdings eher Fetzen hatte, dann wurden Texte ja auch gesprochen. Beispielsweise Zeugenberichte von SOS Méditerranée. Es gab auch Dialoge, die der Regisseur geschrieben hat. Es war eine ständige Verzahnung von verschiedenen Ebenen. Die Ebene Kreuzschifffahrt mit Deutschen, die unzufrieden sind, weil das Personal beispielsweise nicht genug Deutsch spricht. Und die Ebene der Flüchtlinge, die im Meer sterben. Irgendwann war die ganze Philharmonie für mich ein Schiff. Wir alle steckten mitten drin und wurden durcheinander gewirbelt. Als Lab.Choristin in Köln war ich ja eine gewisse Zeit immer draußen und habe Momente verpasst. Jetzt war ich die ganze Zeit über intensiv drin. Am Ende war ich völlig eingenommen und dachte sogar: Stopp, ich kann nicht mehr! Es war heavy! Menschlich bedrückend! Trotz der Schönheit der Musik. Manoury hat übrigens in einem Interview in Frankreich darüber gesprochen, dass dieses Thema zu verarbeiten für ihn eine Gratwanderung gewesen sei. Er habe nicht das Leid der Menschen benutzen wollen, um ein Kunstobjekt daraus zu machen. Ich habe mich danach gefragt, ob es gelungen sei. Ich habe mit meinem Sohn darüber gesprochen. Er sagte, „est-ce que tous cela n’est pas trop bien pensant?“ Das ist vielleicht auch die Sorge von Manoury gewesen. Leider konnten alle Freunde, die ich sowohl in Köln als auch in Paris mitgeschleppt habe, die Musik nur schwer aushalten. Aber es sei auf jeden Fall eine spannende Bühnenerfahrung im Konzert gewesen.

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