Das Quatuor Ébène veröffentlicht einen Beethoven-Gesamtzyklus, aufgenommen rund um den Globus!

Es war das letzte Konzert, das in München noch stattfinden konnte und eines der aufregendsten der Saison! Der zweite Abend des Quatuor Ébène mit dem kompletten Beethoven-Zyklus, für den im Herkulessaal der Residenz knapp unter 1000 Karten verkauft waren. Das Konzert am 11. März durfte noch stattfinden, und hoffentlich wird – unter Ausfall des für den 25. März geplanten Termins – der Zyklus im Herbst wie geplant mit den letzten drei Konzerten zu Ende geführt. Bis dahin kann man mit den Ébènes und den 16 Streichquartetten Ludwig van Beethovens virtuell um die Welt Reisen. (Von Klaus Kalchschmid)

Die neue Ébènes-CD-Box mit allen Beethoven-Streichquartetten
Unter dem heute Sehnsüchte weckenden und Fernweh auslösenden Motto „Beethoven around the world“ versammelt eine Erato-Box die Livemitschnitte von sieben Konzerten zwischen Mai 2019 und Januar 2020 in Philadelphia, Wien, Tokio, São Paulo, Melbourne, Nairobi und Paris, der Heimat des Quatuor Ébène. Jeweils ein oder zwei frühe Quartette aus op. 18 und ein mittleres (op.59/1-3, 74 oder 95) oder spätes (op. 127, 130-133) ergeben ein in sich stimmiges Programm. Lesenswert ist auch das Reisetagebuch von Cellist Raphaël Merlin mit vielen erhellenden Beobachtungen, bei denen alles auf der Skala von fein bis lustig skurril vertreten ist.

In München begann der Zyklus mit dem ultimativ höchsten Anspruch: Dem ersten der Rasumowsky-Quartette (op. 59/1) folgte op. 130 in der Urfassung mit der später als op. 133 veröffentlichten „Großen Fuge“. Auf der ersten CD dagegen trifft op. 18/1 auf das große, wild zerklüftete, siebenteilige op. 131 als Hauptwerk. Ein großer Abstand im geistigen Anspruch wie im musikalischen Charakter trennt frühe und späte Werke und doch erweist sich auf der Reise mit den Ébènes immer wieder, wie inspiriert und frisch die ersten sechs Quartette klingen können, wenn man sie denn in jedem Takt und jeder Phrase ernst nimmt und mit einem Höchstmaß an Liebe und Zuneigung, aber auch technisch perfekt, geistig bis ins Letzte durchdacht und mit einem Höchstmaß an differenziertem Ausdruck musiziert. Andererseits erfahren die Spätwerke eine so tiefe Durchdringung auf allen Ebenen, dass man auch sie oftmals hört, als wäre es das erste Mal.

Nicht nur in München bei den beiden Konzerten, sondern auch auf CD ist zu erleben, dass die drei Gründungsmitglieder des französischen Quartetts, das 2004 den ARD-Musikwettbewerb gewann, und ihre neue Bratscherin Marie Chilemma, tief in den Kosmos der frühen Quartette eingedrungen sind, und etwa beim letzten Werk des Opus 18 nie gehörte Facetten, Strukturen und eine Tiefe des Ausdrucks finden, den kaum je eine Streichquartett-Formation entdeckt hat. Beim Konzert in São Paulo war op. 18/6 kombiniert mit dem ersten der späten Quartette, dem op. 127. Neben dem „Heiligen Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit“ (op. 132, 20 Minuten) enthält es mit 17 Minuten den längsten und vielgestaltigsten langsamen Satz eines Beethoven-Quartetts. Ihm folgt ein geschmeidiges Scherzo und ein erstaunlich unbeschwertes Finale, überragend durchleuchtet und prägnant musiziert von den Ébènes.

In Nairobi gab es gleich zwei frühe Quartette und das allerletzte, erstaunlich knappe und vermeintlich „konventionelle“ op. 135. Wie frisch und fast jugendlich unbekümmert klingen op. 18/4 und 5 des Endzwanzigers. Doch während op. 127 bis 131 die traditionellen Grenzen sprengen, ist das letzte Quartett den frühen zwar vergleichbar. Doch stellt gerade der langsame (Variationen-)Satz „ein Wunder an Abgeklärtheit und Schlichtheit“ dar, so Gerd Indorf in seinem hervorragenden, detailreichen Buch über „Beethovens Streichquartette“. Und den vier Franzosen gelingt das Kunststück, diesem Wunder die Aura überirdischen Wohlklangs zu verleihen .
Noch aufregender als auf CD (aufgenommen in Wien am 11. Juni 2019) gelingt am 1. März 2020 im Prinzregententheater das Opus 59/1. Geradezu eine Sensation aber ereignet sich bei den 50 (!) Minuten des op. 130 in der Originalfassung mit der alles sprengenden Fuge, auf welche die vorausgehenden Sätze konsequent hinführen. Das nachkomponierte neue Finale stellt lediglich ein Zugeständnis an den Verleger und das Publikum dar. Man konnte die Ébènes schon im Prinzregententheater dafür bewundern , wie stringent sie die ersten vier Sätze als zwingende Vorbereitung für die „Große Fuge“ spielten, aber wie schön, dass diese Sternstunde im Mitschnitt aus der legendären Suntory Hall in Tokio eine Entsprechung findet. Nicht zuletzt vom Fugen-Finale kenne ich keine Einspielung, die so risikoreich aufregend und zugleich so präzise und gewaltig eine Architektur in Tönen errichtet, die auf die Ohren wirkt wie für die Augen eine gotische Kathedrale im Blick durch ein Kaleidoskop: also als unwiderstehliche Mischung aus genialer Konstruktion , absoluter Schönheit und einer guten Portion Wahnwitz.

In Paris, wo sich das Quartett einst gründete und das noch immer hauptsächlicher Lebens- und Arbeitsmittelpunkt ist, fand das letzte hier dokumentierte Konzert des Zyklus statt. Wieder verblüffen die vier mit einem ungemein zärtlich und zugewandt musizierten frühen Quartett, diesmal op. 18/3. Dann folgt, wie im Konzert am 11. März, das op. 132. Dessen „Molto adagio“ ist mit „Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart“ überschrieben, was damals wie heute etwas erschreckend Aktuelles, in die Zukunft weisendes hat, wie auch die Andante-Teile, „Neue Kraft fühlend“, in diesen Zeiten wie neu gehört werden. Wie schön, dass man diese aufregende Beethoven-Weltreise immer wieder machen kann, beliebig die Stationen wechselnd und dabei stets Neues, manchmal buchstäblich Unerhörtes entdeckend.
Die ersten drei Konzerte des Beethoven-Zyklus mit dem Quatuor Ébène bei der Schubertiade Schwarzenberg im Juni mussten abgesagt werden. Noch besteht die Chance, im August die Teile IV, V und VI dort zu hören. Wie auch im Münchner Prinzregententheater von Oktober bis Dezember.

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