„Alte Meister“ klingt selbst für ein Alte-Musik-Festival verstaubt. Das sind Thomas Bernhards „Alte Meister“ aber ganz und gar nicht. Dieser vor 40 Jahren verfasste Komödien-Roman lieh den Resonanzen_2025 auch nicht nur seinen Titel. 10 Tage lang lieferten Bernhard-Zitate griffige Konzert-Überschriften. Das Beiprogramm ermöglichte mit Film-Dokus und Lesungen eine Auseinandersetzung mit dessen oft auf Musik Bezug-nehmende Prosawerke, und sogar persönliche Einsichten in das Leben dieses Skandalautors waren zu gewinnen, der ja als Störenfried der Nachkriegsharmonik Österreichs galt. Die Musik-Programme, dramaturgisch geschickt dazu gemischt, erhielten dadurch sogar eine ungewöhnliche Belichtung. Und nicht zuletzt setzten sich einige der Interpreten in diesen Bernhard-Resonanzen mit ihm intensiv auseinander, wie im Eröffnungskonzert zu erleben. (Von Sabine Weber)
(18. bis 26. Januar 2025, Konzerthaus Wien und Kunsthistorisches Museum) Sicherlich sitzen einige im Publikum, die wie ich noch nie Thomas Bernhard gelesen, und noch nicht so recht ins Programm der diesjährigen Resonanzen finden. Das erledigt sich im Eröffnungskonzert. Die Überschrift wird gelesen! Heißt, der Roman Alte Meister. Statt eines großes Orchesters, das auf der Bühne des Mozartsaals im Konzerthaus anrückt, sind es zwei Schauspieler des Burgtheaters. Sylvie Rohrer und Martin Schwab nehmen hinter einem mit Velour bezogenen Tisch Platz. Und schauen erstmal nach links zu Paolo Pandolfo, der seine Gambe hingebungsvoll stimmt. Der schmächtige Mann zelebriert das Stimmen geradezu.
Schrulliger Kunstkritiker

Doch dann ist Thomas Bernhard dran. Mit Sylvie Rohrers beginnenden Worten entsteht im Kopf sofort die Szenerie. Die Welt des schrulligen 82jährigen Kunstkritikers Reger. „Er hat einen Hut auf dem Kopf, sonst nie!“ Regers Verdikte, gefunden und geschliffen zwischen dem Wiener Ambassador-Hotelrestaurant und der Museumsbank in einem fiktiven Saal des Kunsthistorischen Museums in Wien werden von Rohrer in der Rolle des von Reger einbestellten Atzenbach entgegengenommen. „Sagte Reger“ lautet einer ihrer häufigsten Halbsätze. Martin Schwab pointiert dann das Gesagte Regers.


Irgendwann setzt Pandolfo ein. Das Wort Fuge ist gefallen. Und das königliche Thema aus Bachs Kunst der Fuge nicht zu überhören. Die Madrigal- und Chanson-Bearbeitungen dagegen sind nicht zu entziffern. Wie gehuschte Gesten wirft Pandolfo Fragmentarisches ein. Gestrichene Halbsätze, die sogar Grundlage für ein Melodram werden. Die Schauspieler sprechen über den Gambenton, drücken unwillkürlich auf die Stimme, um lauter als die Musik zu sein. Das wirkt ein bisschen krampfig. Zu bedauern ist, dass Pandolfo so lange nebenbei bleibt. Er spielt Bruckner, so verrät der Programmzettel, zitiert aus einem Händeloratorium oder einem Orgelstück von Andrea Gabrieli. Irgendwann ist das Gleichgewicht in dieser Improvisation aber gefunden. Pandolfo nimmt sich seinen Freiraum. Es gibt im Roman Gewitter, und da fegt er, ganz Solist, mit Marin Marais’ Tourbillon über die Saiten, bleibt aber bei der eher verhuschten Geste. Atmosphärisch, leise-laut, verzögert. Das Tombeau pour Marias Le Cadet am Schluss ist eine Antwort auf die Melancholie. Sie ist in Bernhards Werk immer präsent.

„Immer dümmer werdende Regierungen in Österreich…“
Die Großangriffe Regers/ Bernhards folgen nach der Pause. Der freie Künstler wird beklagt, er sei eine Utopie, und Bernhard haderte sicherlich auch mit seinem Schicksal! Wenn Reger (ein deutscher Komponistenname!) die Wiener Klassiker, dazu Schubert, Bruckner und Wagner durch den Kakao zieht, wie auch Bach nicht vollkommen sein darf, kratzt Bernhard vor allem an Institutions-Legenden, Mythen, Autoritäten, Vorbildern und Festsetzungen, die der freien Entwicklung eines Menschen zu hohe Berge sind. Bei den „immer dümmer werdenden Regierungen hier in Wien…“, da juchzt das Publikum und lacht. Dabei ist das ernster denn je…
Glenn Gould …
Das Eröffnungskonzert als Lesungs-Improvisations-Experiment bringt auf die Bernhard-Spur. Und auch die folgenden Programme, zwar nicht eigens fürs Festival entstanden, werfen Schlaglichter auf das Phänomen Bernhard. Sein Roman Der Untergeher entstand aus seiner Bewunderung für Glenn Gould, was wiederum François Girards 32 Short Films about Glenn Gould von 1993 ins Rahmenprogramm bringt. Die Goldbergvariationen gibt es im Hauptprogramm. Gould hat sie in zwei Einspielungen zur Kultmusik gemacht.
Das mag weit hergeholt klingen. Aber die Rahmenprogramm-Veranstaltungen sind sehr oft sehr voll. Hier seien auch die Konzerte mit jungen Nachwuchskünstlern erwähnt, zumeist Preisträger des Cesti-Wettbewerbs oder der Musikfestspiele Sanssouci aus dem Vorjahr. Der Countertenor Maximiliano Danta ist die Entdeckung. Bruchloses Timbre, Volumen und Bühnenpräsenz. Er begleitet sich auch selbst auf der Lirone und greift einmal zum Zink!!!

Jean Rondeau
Mit Jean Rondeau ist einer der aufregendsten derzeitigen Interpreten für die Aria mit verschiedenen Veränderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen – so der Originaltitel der Goldberg-Variationen – zu Gast. Er fügte am Beginn noch ein improvisiertes Preludio hinzu, improvisiert auch in die ein oder andere Variation hinein und braucht für den schwer beeindruckenden Vortrag in extrem langsamen aber auch schnellen Tempi Eindreiviertel Stunde. Gould brauchte für die erste 1 Stunde und 16 Minuten, für seine zweite Einspielung 50 Minuten…
Accademia Bizzantina mit „Staatsmusik“!
Damit dauerte diese Konzert länger als die Habsburger Propaganda am folgenden Abend. Die Accademia Bizzantina unter Ottavio Dantone, präsentierte die einaktigen Serenata Il trionfo della Fama von Francesco Bartolomeo Conti (1723). Als festliches Eröffnungsstück für die neue Innsbrucker Residenz des Orchesters in Innsbruck und zugleich Dantones Übernahme der dortigen künstlerischen Leitung im letzten Jahr ausgegraben und aufgeführt, liefert die Serenata bei den Bernhard-Resonanzen in Wien das perfekte Beispiel der von Reger beschimpften Staatsmusik. Genauer: eine „geistfeindliche habsburgisch-katholische Staatsmusik.“
In allen Affekten freischaltende Musik
Das nicht nur schlechte, sondern wirklich elend devote Libretto auf Bestellung scheint den Komponisten und Vize-Hofkapellmeister Conti aber äußerst inspiriert zu haben. Conti liefert eine abwechslungsreiche, teilweise sogar witzige, harmonisch wie melodisch einfallsreiche und in allen Affekten frei schaltende Musik. Sie dürfte als Beweis herangezogen werden, wie sich Komponisten zum Trotz der Dienstanweisung künstlerischen Freiraum sehr wohl erobern. Geradezu unerhört ist die Bassarie Aggiunge al di solenne mit zwei konzertierenden Fagotten, die genauso wild notiert ist, wie sie klingt. Conti hatte eine Vorliebe für ungewöhnliche Instrumentalfarben, setzte auch schon mal ein Chalumeau, Psalterium oder Baryton als obligates Instrument ein.
Purcell Choir
Die Solisten des Abends verkörpern Allegorien auf den Ruhm, die Tapferkeit oder die Herrlichkeit, und bringen alle geläufige Gurgeln für die koloraturenträchtige Arienarbeit mit. Nur der Genius, eine Mezzosopranpartie, durfte mit warmem Timbre für die Liebe werben – wir würden es heute Empathie nennen. Bis auf zwei Solisten war die Besetzung auch identisch mit der neuzeitlichen Weltersteinspielung in Innsbruck im letzten Jahr. Unbedingt erwähnt werden sollte der Purcell Choir aus Budapest. 1990 von György Vashegyi gegründet, hinterlässt er nach seinem Wiener Debüt als Chor einen starken Eindruck und intensivierte bei der Zugaben-Wiederholung des letzten Chorsatzes sogar nochmals feine dynamische Abstufungen.
Viel Politik
Die Forschung rätselt übrigens bis heute darüber, warum sich Karl VI. 11 Jahre nach seiner Krönung nochmals derartig huldigen ließ und Huldigungswerke, das von Conti war nicht das einzige, in Auftrag gab. Dantone vermutet, dass die im Jahr zuvor von Karl mitgegründete Ostender Companie einen Grund geliefert hat. Sie sollte den überseeischen Verkehr zwischen Holland, das zu Habsburg gehörte, und anderen Kontinenten ankurbeln, was die Handelskonkurrenten England und Frankreich nicht begeisterte. Aus diesem Grund sollten Asien, Afrika, und Amerika Karl VI als Kaiser einer Handelsmacht huldigen, wie in den Chören zu Anfang der Serenata auch zu hören. Das Problem der nur weiblichen Nachfolgerinnen nutzten dann die Engländer, ihr Einverständnis mit dem Ende der Ostender Compagnie zu verbinden. Es war also viel Politik im Spiel. Sechs Jahre später war die Ostender Companie schon wieder am Ende. Contis Staatsmusik hat überlebt.
Ein Gespräch mit Peter Reichelt, künstlerischer Leiter der Resonanzen. Aufgenommen am 24. Januar 2024. Die Fragen stellt Sabine Weber
Björn Schmelzer und Graindelavoix

Björn Schmelzer und Graindelavoix lieferten ein weiteres Beispiel für intensive Bernhard-Auseinandersetzung. Das Programm mit verschiedenen polyphonen Vertonungen der gregorianischen Antiphon media vita in morte sumus – mitten im Leben sind wir im Tod hat das belgische Vokalensemble bereits letztes Jahr, unter anderem in Köln, vorgestellt. Ensembleleiter Schmelzer hat seine Auswahl jetzt mit Aussagen von Bernhard über die Bedeutung des Todes neu gemischt. Und sein Text im Programmbuch verrät, dass er sich intensiv mit Bernhard zu diesem Punkt auseinandergesetzt hat. Die im Konzert eingeblendeten Aussagen stammten aus einer der beiden im Beiprogramm der Resonanzen gezeigten Dokus von Krista Fleischmann. Da spricht Bernhard über Begegnungen mit dem Tod in der Kindheit auf dem Friedhof oder in Aufbahrungshallen. Später dann hätte er nicht mehr über den Tod nachgedacht. Denn der Tod denke ja über ihn nach. Eine der typischen Bernhard-Elogen – ernst oder lustig? – folgt. Nach dem Tod klinge Musik immer noch im Kopf, wenn Maden den Takt im Körper übernähmen, den sie erst im linken, dann im rechten Augenwinkel erobern würden… Bei den Resonanzen verfolgen einen bestimmte Bernhard-Zitate.
Media vita in morte sumus
In völligem Dunkel betreten die acht Sänger, darunter zwei Sängerinnen, jedenfalls die Bühne quasi unsichtbar. Und nur langsam leuchten jeweils Birnen an einem Gestänge über den Sängern und bringen etwas Licht, derweil sie ein Media vita in morte sumus nach dem anderen in zumeist sechsstimmigen flämischen Polyphonie-Vertonungen intonieren. Angefangen bei Nicolas Gombert. Ludwig Senfl, Orlando di Lasso, Jacobus de Kerle. Eher rauh klingen die Stimmen, so als sollten sie gerade nicht verschwimmen und deutlich bleiben. Ein Tenor klingt sogar sehr kehlig. Die Stimmführungen folgen noch keiner Funktionsharmonik. Leittöne werden nicht notwendig aufgelöst. Es gibt immer wieder Härten, unglaubliche Querstände. Dennoch wogt es wie Wolken und im Dunklen nie klar wohin. Auch das unendlich mäandernde fast 20 minütige Media vita des Engländers John Sheppard. Die Interviewausschnitte von Bernhard dazwischen sind leider einige Male zu lang. Die Atmo dadrin wirkt auch störend, vor allem beim Übergang vom O-Ton zur Musik bricht sie hart ab. Und die Stierkampfarena, die Bernhard besucht, um das Abschlachten des Stieres zu beschreiben, war ja schon im Film unerträglich. Jetzt sind es vor allem die unerträglich grölenden Massen im Hintergrund. Sadistisches Morden ist doch auch nicht das Thema. Einige verlassen den Saal. Eindrücklich ist das Ende im Finstern. Thomas Bernhard denkt über die Auslöschung nach. Nur so kann es weitergehen. Mal Heraustreten aus dem Leben müsste man mal können. Ins Finstere hinein, die Tür hinter sich zu schlagend.
Dunedin Consort und Orchestra unter John Butt
Einen Bogen zum Anfang findet das Finale mit Georg Friedrich Händels Oratorium Susanna HWV 60 mit dem Dunedin Consort und Orchestra unter John Butt mit Anna Dennis als Susanna und Alexander Chance, der Sohn von Michael Chance und ebenfalls Altus, als Joacim. Im Saal, wo der weißbärtige Alte von Tintoretto hängt, den Reger zum Nachdenken betrachtet, da hängt an der Nebenwand auch Tintorettos Susanna im Bade. Das darf jetzt wieder als weit her geholt gelten. Aber die Rahmenhandlung des Romans Alte Meister hat diese Resonanzen-Ausgabe auch mit zwei Konzerten, erstmals in Kooperation mit dem Kunsthistorischen Museum, geführt. Und es gibt auch ein Bernhardsches Händel-Oratorium-Zitat in Bezug auf Rossini-Opern, das mir jetzt leider nicht einfällt.
Countertenor Alexander Chance beeindruckt
Mit diesem Oratorium konnte man jedenfalls wieder erleben, wie grandios dramatisch Händel Arien komponiert, selbst wenn der Satz im Orchester nur zweistimmig bleibt. Manchmal laufen sogar Violinen und Basso continuo im Unisono, und doch fehlt nichts. Die beiden Violoncelli und die Violonespielerin hatten ziemlich viel zu tun. Das schottische Ensemble unter John Butt, der hier wie Ottavio Dantone vom Cembalo aus dirigierte, sorgte für eine exzellente Aufführung. Und nervte die moralische Betonung der Gattenliebe und Treue zu Anfang, so schaffte sie doch Fallhöhe, zumal die beiden Lustgeilen Alten die Stillung ihrer Sehnsucht auch noch militärisch verbrämten, was umso widerlicher wirkte. Joshua Ellicot und Matthew Brook drehten jedenfalls herrlich auf. Und Jessica Cale in zwei Nebenrollen und doch einer anspruchsvollen Arie, überzeugte ebenfalls. Bewunderungswürdig aber Anna Dennis und Alexander Chance, letzterer mit Volumen ohne Registerbrüche und virtuosester Koloraturen fähig. Der Chor beherschte mit 16 Sängern Wucht und Fuge. Zu recht wurde das Finale bejubelt, und auch das Debüt des Dunedin Consort und Orchestras bei den Resonanzen.

Very British
Britisch bestimmt war ja auch Lyra-Viol-Spezialistin Friederike Heumann, die das Programm ihrer jüngsten CD zum Besten gab, wobei die erkrankte Solistin einen wunderbaren Ersatz auf die Bühne brachte. Caren Tinney, mit typisch britischen Klang, etwas eng und obertonarm, aber glasklar, wusste auch volksliedhafte Balladen darzustellen. Der Titel des CD-Programms Dream and Imagination, nach einem Stück von Robert Jones so betitelt, wurde hier zu Gehen umgewandelt. Bernhard, bevor ihn die Lungenkrankheit lahm legte, war gern zu Fuß unterwegs und zudem ein Schuhfetischist Londoner Machart.
Letter-Stiftung aus Köln stellte wieder aus
Längst sind alle Eindrücke dieser prall gefüllten 10 Tage noch nicht wiedergegeben. Zum Beispiel die Instrumentenausstellung an den beiden ersten Tagen. Oder die Ausstellung der Letter-Stiftung Köln, die, wie schon die vergangenen drei Jahre, Druckgrafiken im Berio-Foyer ausstellte. In Bezug auf Thomas Bernhard, der die Kunstwissenschaftler allesamt als Kunstzerstörer vernichtend diffamierte, waren die Kunsthistoriker-Wanzen von Marcus Behmer eine ganz besondere Ergänung. Die Aaswanze, die sich vom Ruhm der alten Meister ernährt. Und die Schönwanze, die sich spreizt, weil sie gefallen will…