„Nabucco“ ist am Rhein im Trend. Zufall? Letztes Jahr war dieser Verdi sowohl in Köln unter Regisseur Ben Baur als auch in Düsseldorf in einer bemerkenswerten Inszenierung von Ilaria Lanzino zu erleben. Jetzt hat das Theater Bonn am Tag der Deutschen Einheit seine Opernspielzeit 25/26 mit dem alttestamentlichen Drama in der Regie von Roland Schwab eröffnet. Und toppt die NRW-Serie mit einer in allem perfekten Premiere. (Von Sabine Weber)
(3. Oktober 2025, Theater Bonn) So makellos beglückend ist dieser Verdi noch selten aus dem Orchestergraben gekommen. Dirigent Will Humburg ist als Verdi-Spezialist ja bekannt. Der Posaunenchoral, mit dem er die Ouvertüre eröffnet, leuchtet samtig weich, die Blechbläser des Beethoven-Orchesters klingen traumhaft. Das Orchestertutti nach einer Streicherüberleitung wenig später pustet dann mit hohler Triumphfanfare jedes Glücksgefühl aus den Knochen. In diesem Verdi gibt es Hass, Gewalt, Hybris, Verachtung und ein bisschen Liebe – natürlich – als Schmieröl der Handlung. Und noch drei Mal kommt der Posaunenchoral wie ein frommes Gebet, an dem man sich wie an einem Rettungsanker bald festhalten will. Denn es folgt eine Passage mit punktiertem Unruhe-Rhythmus. Verdis Charaktere sind Getriebene ihrer Gefühle. Und sie sind Getriebene in einem Machtspiel, das durch Volkes Massen gefährliche Wucht entwickelt. Die erobernden Assyrer unter Nebukadnezar gegen die Widerstand leistenden Hebräer in Jerusalem, angefeuert von Zacharia.
Verdi ging es seinerzeit um die Befreiung Italiens von der ewigen Fremdherrschaft, und er wiegelte mit diesem Stück bekanntlich auf. „Fanatismus ist das tödliche Metronom, ohne das die Wiegenlieder des Terrors nie erklingen“ steht in weißen Lettern auf dem geschlossenen Bühnenvorhang. Die Worte stammen von Peter Rudl, einem deutschen Aphoristiker, wie das Netz zuhause verrät. Ein Fanatiker war Verdi sicherlich nicht.
Machtausübung, Unterdrückung, Befreiung…?
Es geht bei der vorchristliche Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar für Verdi und seinen Librettisten Temistocle Solera vor allem um die Chiffren von Machtausübung (Nebukadnezar, Abigaille, Zaccharia), Unterdrückung und -Freiheitshymnen (Chöre, das Volk). Von den damit einhergehenden menschliche Verwerfungen und Verletzungen sind fast alle betroffen. Mit oder ohne die Flagge ihres Landes oder einzig wahren Gottes, werden auch die Opfer schnell gewaltbereit. Krieg hebelt Menschlichkeit aus. Die Weltlage aktuell zeigt, die Menschheit lernt seit Jahrtausenden von Jahren nichts dazu.

Die Opfer sind gewaltbereit
Regisseur Roland Schwab arbeitet mit Bühneneffekten, bebildert die Hybris von Machtentscheidern und Fanatikern, stellt aber ebenso die Verletzlichkeit der verschiedenen Charaktere in diesem Kriegsdrama heraus. Elektronische Spruchbänder verkünden dazu Botschaften. Die Bühne hat sein alter Ego im Bühnenbau gestaltet. Und Piero Vinciguerra liefert, mit gnadenlos umrandenden Stahlwänden, die Arena.
Auch die Opfer sind gewaltbereit
Gnadenlos ist zu allererst der fanatische Oberpriester Zaccharia in schwarzem Anzug mit langen grauschütteren Haaren, fast ein Alt-Hippie (Derrick Ballard, der etwas eiert er, weil er permanent zu sehr auf die Tube drückt, was auch der Rolle geschuldet ist). Seinem Volk führt er die in seine Hände gefallene assyrische Prinzessin Fenena vor (Charlotte Quand, mit warmem, hingebungsvoll überzeugendem Timbre, es ist allerdings eine nur kleine Rolle, immerhin mit einer umwerfend rührenden Arie im letzten Akt). Fenena soll als Pfand gegen den anrückenden Nebukadnezar ausgespielt werden. Die Hebräer schöpfen singend neue Hoffnung. Schwab lässt sie am Rand die Gefangene nicht nur verächtlich belächeln, sondern gemein hänseln. Die Opfer sind gewaltbereit.
Chef mit Zuhältersonnenbrille
Nebukadnezar erobert dann von oben die Bühne auf einem überdimensionalen Chef-Sessel. Ein großartig überzogenes Bild. Wie dieser Sessel auf Höhe der frontalen Eisenwand, die sich gleichzeitig senkt, hochgewuchtet wird, würde man von der Bühnentechnik gern erfahren. Mit Zuhältersonnenbrille und in geschmacklosem rosa Anzug über organgefarbenem Hemd (Kostüme: Renée Listerdal) ist Nebuzkadnezar irgendein sich aufspielender Popanz, den die Unterhaltungsbranche wohl herangeschwemmt hat. „Das alte Babel“ leuchtet in roten Lettern auf. Babelsberg? Dieser Diktator macht jedenfalls hier eine nicht biblisch verbürgte Wandlung durch. Und hat im letzten Akt, er ist von seiner putschenden Tochter Abigaille abgesetzt und als Wahnsinniger gefangen gesetzt worden, eine große Soloszene. Aluda Todua verleiht den Facetten Nebukadnezars mit spielerischem Einsatz Ausdruck. In der Verzweiflung als verletzter Vater, der sich wünscht, von seiner Tochter umarmt zu werden, überzeugt er am meisten. Seine variable und differenziert nuancierte Baritonstimme zeigt sich als sehr wandlungsfähig.
Allmachtssprüche
Die Gefängnisgitter sind die zuvor an einem aufwendigen Konstrukt kreuz und quer aufgehangenen elektronischen Spruchbänder mit Allmachtsfantasien von Diktatoren eines Stalins oder Idi Amins und weiterer. Über Nebukadnezars Thronchefsessel herabgefahren, gehen sie später in Rauch auf – ein von Verdi interpoliertes biblisches Menetekel – und werden zum Gatter des gefallenen Herrschers, der sich bekehrt.

Zwei Solisten müssen noch herausgestellt werden. Erika Grimaldi ist als machtbesessene Abigaille in ihrem schwarzen Lederdress mit Springerstiefeln und Hunnenzopf geradezu furchteinflössend. Und die Italienerin erweist sich als stimmlich hervorragend mit der geforderten und superb vorhandenen Kraft mit aller Koloratur. An ihr zeigt Verdi, wie er seine gebrochenen Figuren liebt. Kein Schwarz und Weiß, er stattet sie mit allen dazugehörigen menschlichen Schattierungen aus. Weil sie in der Liebe von Ismaele enttäuscht wurde, ist sie rachewütig. Weil sie als Sklavin Gedemütigte in der Unterklasse war, will sie jetzt hoch hinaus und die Strippen ziehen, die das fallengelassene Spruchbandkonstrukt tatsächlich hängen gelassen hat.
Ensemble-Trios madrigalesk zauberhaft
Und sie sitzt auch auf dem Thronsessel, der inzwischen auf dem Boden angekommen ist. Wie sie im letzten Akt dann barfuß und herzzerreißend um Vergebung bittet, glaubt man ihr fast nicht. Aber das zu dieser Szene gehörende Ensemble-Trio mit ihr ist so zauberhaft madrigalesk ausgestaltet. Keiner übertönt den anderen, kein Vibrato stört die Verschmelzung der Stimmen, dass einen die berührende Lust einfach einholt.
Ioan Hotea als Ismaele ist ein beweglicher agiler Heldentenor, singt zwar mit Stentorstimmen, Verdi hat das Brustregister nicht besonders gemocht, sondern statt des metallischen Strahlens mehr Zwischentöne gewollt. Aber Hoitea macht das so klangschön und differenziert, dass es sich wiederum in den Verdi-Ton einpasst. In seiner erste Begegnung mit Fenena vor der Chortumultkulisse, wird er quasi zu ihr geschleudert und gleichzeitig von ihr weg. Die beiden stehen an der Rampe und schauen sich irritiert an, während sie Schritt um Schritt zurücktreten. Eine spannungsgeladene Symmetrie und ein Bild, das alles erklärt.

Violoncelli, Symbole für die Verletzlichkeit des Menschen
Regisseur Schwab ist permanent auf musikalischer Spurensuche und kommt auf kuriose Regieeinfälle. Das hinreißende Violoncellosextett am Beginn des dritten Aktes macht er zum Teil der Inszenierung. Er stellt das Sextett vor dem Dunkel der Bühne mit sechs Statisten nach, die in unterschiedlichsten Spielposen ihre Violoncelli unbeweglich halten. Zaccharia erscheint singend aus dem Dunkel dahinter wie eine beschwörende Macht. Später werden den Cellisten die Instrumente von Gegenkämpfern aus der Hand gerissen, eines wird sogar zertrümmert. Es sind verletzliche und menschliche Instrumente (Man Ray!) und im Verlauf der vier Akte werden sie zum Symbol für die Verletzlichkeit der hier agierenden Menschen.
Ein Cellist auf der Bühne
Schon in der erste Szene, einer gewaltige Chorszene, halten die Hebräer Violoncelli in der Hand. (Siehe Titelbild. Foto: Matthias Jung) Als hätte eine Bombe bei einer Orchesterprobe eingeschlagen. In dem Tumult – die Chormassen zu bewegen, darauf versteht sich Schwab auch vorzüglich – versuchen sie, ihre empfindlichen Instrumente zu retten, zu schützen, umklammern sie wie Wesen. Ganz zum Schluss in der schon erwähnten großen Verzeih-Arie Abigailles sitzt dann ein tatsächlich spielender Cellist – barfuß – auf der Bühne. Das ist eine gelungene Auflösung. Der Solocellist des Beethoven-Orchesters macht die redundante Melodiefloskel dieser Arie als Solist deutlich. Damit ein typisches Verdi-Mittel der Rührung, dass die Bitte unwiderstehlich macht. Verdi hat selbst Cello gespielt und das Cello als solistische Orchesterfarbe oft – wie hier – sehr speziell eingesetzt.

Unwillkürlich kommt einem sogar der Gedanke an Musiker im KZ, die mit ihrer Kunst ums Überleben gespielt haben. Man muss ja nicht alles richtig verstehen. Auch der Babel-Spruch oder das Enjoy, „Genieße!“, über der drohenden Exekutionsszene bleiben mysteriös. Während der berühmten „Va pensiero…“-Chorarie, die wunderbar leise bleibt, hält der langsam vorrückende Chor leuchtende Mobilfunkbildschirmchen ins Publikum. Ein schönes Bild, aber was heißen hier die „Handys“ – sind sie das Mittel der Freiheit. Macht nix. Das Bild ist schön und es subsumieren sich alle Bilder perfekt in den Ablauf, der zu allererst von einer gelungenen Personenregie lebt.
… und von der Musik, natürlich
… und von der Musik natürlich. Von Anfang bis Ende geht Will Humburg in jedes musikalisch angelegte Extrem hinein. Er traut sich langsam auszumusizieren, trifft jedes Tempo, kurbelt an, bremst ab, lässt es gewaltig tönen und findet zu den solistischen Momenten schlüssige Übergänge. Beeindruckend, seinen Dirigentenstab sowie seinen schlohweißen Kopf knapp über dem Grabenrand zu sehen! Noch mehr, als Humburg an einer Krücke in den Schlussapplaus gerufen wird. Das Publikum springt sofort laut klatschend und schreiend aus den Sesseln. Wie er die Balance zwischen Orchester und Solisten auf der Bühne austariert hat, ist Preisverdächtig. Das Beethoven-Orchester klingt an diesem Abend so rund, als wäre die Akustik in der Oper Bonn die perfekteste in der Bundesrepublik.